Forderung nach EU-Reform

Mehr Demokratie gegen die Spaltung der Gesellschaft

Die Flagge der Europäischen Union auf erodierendem Asphalt Eine auf Asphalt gemalte EU-Flagge hat Risse bekommen.
Eine auf Asphalt gemalte EU-Flagge hat Risse bekommen. © imago / Ralph Peters
Von Ulrike Guérot · 22.05.2017
Wir erleben zurzeit keine Renationalisierung Europas, meint Ulrike Guérot. Vielmehr seien die Gesellschaften der europäischen Staaten in sich tief gespalten, so die Politologin – und dagegen helfe nur eine umfassende Demokratisierung der EU.
2015 hat der Philosoph Giorgio Agamben ein Buch veröffentlicht: "Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma". Er beschreibt darin den Zerfall von politischen Körpern, in denen ein Teil der Bürger nicht mehr für sich in Anspruch nehmen kann, den politischen Körper in seiner Gesamtheit zu vertreten.
In der Krise der Repräsentation stehe eine Menge von Bürgern gegen eine andere. Die beiden Mengen wollen etwas grundsätzlich anderes und keine ist mehr "das Volk". Diese Situation entstehe in Zeiten institutioneller Stockung oder Stauchung, was im altgriechischen "Stasis" heißt, übersetzt mit 'Bürgerkrieg'.

Institutionell gestauchtes Europa

Auch die EU befindet sich in einer institutionellen Stockung. Die EU hat sich und ihre Rechtsnormen nicht mehr weiter entwickelt und überfällige gesellschaftliche Entwicklungen nicht befördert, zum Beispiel mit Blick auf ihre parlamentarische Legitimität. In der Konsequenz hat sich ein zunehmend großer Teil der Bürger europaweit gegen die EU und gegen den Euro gestellt.
Damit steht in vielen europäischen Ländern Menge gegen Menge: PiS-Partei gegen Abtreibungsbefürworter in Polen, Orban-Regierung gegen Demonstranten in Ungarn, die sich gegen die Schließung der Central European University wehren. Der rechtskonservative Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, der jetzt im Kabinett Macron ist, sagte kürzlich: "Zwischen Emmanuel und mir und gibt es politische Unterschiede. Aber Marine Le Pen und ich, das ist unversöhnlich."
Demonstranten schwenken ungarische und europäische Fahnen.
Tausende Ungarn sind am 1. Mai aus Protest auf die Straßen gegangen. © AFP
Was aber machen wir in Demokratien, in denen es unversöhnliche Bruchstellen zwischen Bürgern gibt? Was ist die Zukunft der repräsentativen Demokratie? Wer kann beanspruchen, das Volk zu repräsentieren? Sind jetzt die "Brexiter" das britische Volk – oder die Brexit-Gegner? Vertreten die Pegida-Leute oder die Pulse-of-Europe-Bewegung das deutsche Volk?

Der Nationalstaat als Sackgasse

Wir erleben zurzeit nicht, wie uns weisgemacht wird, eine Renationalisierung, sondern eine Spaltung der Bürger. Die Krise der Repräsentation spaltet die europäischen Nationen, das ist meine zentrale These. Mit dem klassischen Links-Rechts-Schema der Parteiensysteme Westeuropas hat das nichts zu tun, der Riss geht nicht durch die Parlamente, er geht quer durch die ganze Gesellschaft, teils mitten durch Familien.
Ob diese Spaltung gekittet werden kann, ist die große Frage. Meine Antwort ist nein, jedenfalls nicht durch eine Rückkehr im heimeligen Nationalstaat. Vielmehr geht es darum, sich die große historische Bewegung der nationalen Spaltung für die Neubegründung eines politischen Körpers in Europa zu Nutzen zu machen.

Umfassende Demokratisierung der EU als Ziel

Wenn der Rechtspopulismus eine Reaktion auf die Unzulänglichkeiten der europäischen Institutionen ist, dann müssen diese ergänzt und verändert werden: ein europäischer Markt, eine europäische Währung, eine europäische Demokratie muss das Ziel sein. Innerhalb Europas dürfen nicht mehr National-Bürger gegen National-Bürger gestellt werden, aber auch nicht Bürger der einen Nation gegen die einer andern. Bürger dürfen in einer politischen Einheit nicht zueinander in Konkurrenz gesetzt werden.
Darum müssen in einer europäischen Demokratie zwei Dinge gelten: die europäischen Bürger sind gleich vor dem Recht. Das würde die europaweite Durchsetzung des allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatzes bedeuten, also Gleichheit bei Wahlen, Gleichheit bei Steuern, Gleichheit beim Zugang zu sozialen Rechten. Und zweitens: es gibt Gewaltenteilung. Beides ist in der EU nicht der Fall. "Politics tops nation" - Politik kommt vor Nation, das wäre die große Europäische Reformation. Es gilt, die derzeitige Spaltung der Nationen durch die Demokratisierung der EU zu überwinden.

Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des "European Democracy Lab" in Berlin, und seit April 2016 Professorin und Departementsleiterin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems in Österreich.

Ulrike Gúerot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung, zu Gast in einer Talksendung.
© imago
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