200 Jahre Monumenta Germaniae Historica

Ein epochales Projekt der deutschen Kultur

Ein mittelalterliches Manuskript mit vier Textsäulen und einer Illustration.
Die Goldene Bulle von Kaiser Karl IV. von 1356. Die Monumenta Germaniae Historica hat das Dokument als Foliant herausgebracht. © picture alliance/akg-images
Von Gunnar Lammert-Türk · 20.02.2019
Seit 200 Jahren bereitet die Monumenta Germaniae Historica mittelalterliche Quellen für die Forschung wissenschaftlich auf. Als sie gegen Widerstände gegründet wurde, half sie, Deutschland als Kulturnation zu definieren.
"Die private Gesellschaft, die sich gegründet hat, war eben der Versuch, die Quellen des Mittelalters zu sammeln", erklärt die Historikerin Martina Hartmann, "und damit auch der Nation die Bedeutung Deutschlands, des deutschen Reiches im Mittelalter, bewusst zu machen, vorzuführen anhand dieser besonderen Quellen und damit natürlich auch identitätsstiftend zu wirken in einer Zeit, wo die politische Situation eben die Leute eher dazu veranlasst hat, sich ins Private zurückzuziehen und sich weniger um die Politik zu kümmern."
Martina Hartmann ist Präsidentin der Monumenta Germaniae Historica, der Geschichtsdenkmäler Deutschlands. Das Forschungs- und Publikationsprojekt wurde am 20. Januar 1819 als "Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichtskunde" in Frankfurt am Main gegründet, nahm aber bald den Namen an, unter dem die erforschten und edierten Quellen zusammengefasst wurden. Initiator war seinerzeit der für seine Reformen berühmt gewordene preußische Freiherr vom Stein.

Deutsche Geschichtskunde als politischer Akt

1819: Das war die Zeit nach dem Ende der napoleonischen Besetzung. Die Zeit nach den Befreiungskriegen, in denen das nationale Bewusstsein in Deutschland erwacht war. Der Wiener Kongress hatte 1815 die politische Landschaft Europas neu geordnet und zugleich die alten Machtverhältnisse wieder etabliert: die Herrschaft der Könige und Fürsten. Deutsche Kleinstaaterei. 30 Jahre, nachdem die Französische Revolution für einen Urknall in Europa gesorgt hatte, war das politische Klima eher resignativ. Biedermeier: der Trend ging zum Rückzug ins Private. In diesem Klima war die Gründung einer Gesellschaft, die sich um deutsche Geschichtskunde kümmern wollte, geradezu ein politischer Akt.
"Die Parole hieß ja nicht nationale Einigung durch Kenntnis der eigenen Geschichte", erklärt der Historiker Olaf Rader. "sondern die Parole hieß: noch weitere Autonomisierung der einzelnen Fürstenstaaten. Das war das Schlagwort der Zeit innerhalb des Deutschen Bundes. Und das hat den Stein doch dann sehr getroffen und hat ihn dann auch manchmal verzagen lassen."
Rader ist Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Nationales Bewusstsein auf dem Schleichweg

Von den im Deutschen Bund locker vereinten Fürstentümern und Staaten erfuhr Stein kaum Unterstützung, auch was die finanzielle Absicherung seines Projektes anlangte. Sie pflegten ihre Partikularinteressen. Der Nationalbewegung standen sie reserviert bis ablehnend gegenüber. Die nationale Idee sprengte die Grenzen der Kleinstaaten und wenn sich das Nationalgefühl mit demokratischen Ideen verband, gefährdete die Bewegung auch den Machtanspruch der Fürsten.
Freiherr vom Stein suchte nicht die Konfrontation mit den alten Mächten, aber er versuchte, gewissermaßen auf dem Schleichweg ein nationales Bewusstsein zu entwickeln – mit dem Rückgriff auf eine weit zurückliegende Vergangenheit. Das kulturelle Gedächtnis sollte geweckt und damit das Nationalgefühl gespeist werden.
"Und wie wird dieses kulturelle Gedächtnis mit sogenannten Erinnerungsorten aufgefüllt", fragt Rader weiter. "Erinnerungsort jetzt nicht nur als Ort verstanden, sondern tatsächlich auch als Text oder Figur oder als gemeinsam erlebte Niederlage oder Sieg. Wenn sich eine soziale Gruppe, in dem Fall eine Nation, darauf beziehen soll, dann kann man im Grunde genommen davon sprechen, dass diese Texte, die da ediert waren, eigentlich auch Erinnerungsorte sind."

"Woher wir wissen, wer wir sind"

Für die Entdeckung dieser Erinnerungsorte gewann Freiherr vom Stein die Elite deutscher Historiker und Philologen seiner Zeit. Ihre Funde gingen in die schweren Foliobände der Monumenta Germaniae Historica ein. Die Goldene Bulle etwa, das berühmte Gesetzeswerk von Kaiser Karl IV. im 14. Jahrhundert, oder der Mainzer Reichslandfriede, mit dem der Staufferkaiser Friedrich II. 1235 dem Fehde-Unwesen in seinem Reich Einhalt gebot. Im 19. Jahrhundert verbreiteten Sondereditionen das Wissen um die mittelalterliche Geschichte auch außerhalb der fachlich interessierten Forscherkreise.
"Da gab es eine Reihe, scriptores rerum germanicarum in usum scholarum separatim editi. Also: für den Gebrauch in der Schule getrennt herausgegeben", erzählt Rader. "Das wurde in der Schule gelesen, dass man also in der Schule, in der Ausbildung Leute hat, die so ein bisschen ein Gefühl dafür bekommen, woher wir wissen, wer wir sind und warum wir heute hier stehen, weiß ich, woher das kommt."

Die Wiederentdeckung des Mittelalters

So sollten die Monumenta deutsches Nationalbewusstsein fördern – in einem Raum, der zwar seit Jahrhunderten als deutsch bezeichnet wurde, aber durch die vielen Regionalprägungen keine übergreifende gemeinsame kulturelle und historische Verwurzelung entwickelt hatte.
Im 19. Jahrhundert aber weckte das Anliegen Interesse nicht nur bei Forschern und Herausgebern der mittelalterlichen Quellen, sondern auch bei anderen Fachleuten und Künstlern. Germanisten entdeckten das Nibelungenlied als eine Art Nationalepos. Historiker schrieben voluminöse Abhandlungen über mittelalterliche Kaiser. Maler und Schriftsteller popularisierten das Wissen, das die Monumenta Germaniae Historica ans Licht hoben. Besonders beliebt waren die Mittelalterschilderungen des Schriftstellers Gustav Freytag.
Gustav Freytag sitzt in einem Salon an einem kleinen Beistelltisch.
Damals populärer als Fontane: Der Schriftsteller Gustav Freytag.© imago/Artokoloro
"Man kann sich gar nicht vorstellen, der war erfolgreicher als Fontane", führt Radar aus. "Das ist ein interessantes Phänomen, ein im 19. Jahrhundert unglaublich bedeutender und erfolgreicher Schriftsteller, der mit seiner Geschichtsdarstellung eben viel tiefer in das Bildungsbewusstsein gegriffen hat als das natürlich logischerweise Quellenstudien oder dergleichen ermöglichen konnten."

Eine Kulturnation formiert sich

Das Bewusstsein, zu einer Kulturnation zu gehören, die sich auf mittelalterliche deutsche Geschichte gründet, prägte auch die weitere politische Entwicklung. Denn die Grenzen des Kaiserreichs waren andere als die des mittelalterlichen Reiches:
"Es war von Anfang an klar, dass auch die Österreicher, nachdem sie 1866 aus dem Bund ausschieden, trotzdem dabei sein sollten. Und insofern war das dann eine zwei- oder drei- oder vierstaatliche Vereinbarung, an diesem Projekt festzuhalten. Mit der Reichsgründung gab es keine Einschränkung territorialer Art, was den Untersuchungsgegen-stand angehen sollte. Es gab da einfach eine Kontinuität oder es blieb bei einer Kontinuität."

Aus zwölf geplanten Bänden wurden 500

Und die überstand sogar die Zäsur des Zweiten Weltkriegs. Auch wenn die Zentrale des Monumenta-Projekts fortan in München war, gab es mit der in Ostberlin verbliebenen Abteilung der Constitutiones unter dem Dach der Akademie der Wissenschaften der DDR auch eine ostdeutsche Sektion. Heute arbeiten neben dem zentralen Institut Monumenta Germaniae Historica in München mehrere deutsche Akademien der Wissenschaften ebenso mit wie die österreichische, der Schweizer Nationalfonds und eine Vielzahl von Editoren auf der ganzen Welt.
Freiherr vom Stein und seine Mitstreiter hatten mit zwölf Bänden an Dokumenten gerechnet und für deren Erforschung und Herausgabe 10 bis 20 Jahre veranschlagt. Es sind mittlerweile fast 500 Bände geworden und die Geschichtsdenkmäler Deutschlands sind nun 200 Jahre alt geworden. Was ursprünglich für die Entstehung einer deutschen nationalen Zusammengehörigkeit gedacht war, ist zum Grundbestand mitteleuropäischer kultureller Identität geworden, als Teil der europäischen Geschichte.
Die Monumenta Germaniae Historica sind, wie Olaf Rader sagt, "Textbausteine einer europäischen Erinnerungskultur. Das muss man sich einfach klar machen. Das ist im Grunde genommen eigentlich der großartige Effekt, weshalb man eben das auch nicht als eine abgeschlossene Angelegenheit ansehen darf, sondern als ein europäisches Gesamtprojekt verstehen muss."
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